
Der Theaterabend beginnt mit einer Entscheidung. Die Frage ist aber nicht, Parkett oder Rang. In der hohen, kahlen Halle K1 auf dem Hamburger Kampnagel-Gelände gibt es an diesem Abend keine Bestuhlung, nicht einmal einen Zuschauerraum und auch keine Bühne. Die vierzig Menschen, die Eintritt gezahlt haben, müssen sich entscheiden, um welchen der acht Bistro-Tische sie sich stellen – und damit festlegen, welche Aufgaben sie an diesem Abend wahrnehmen: zum Beispiel Forschung, Gesundheit, Sicherheit, Presse.
Das Team Bevölkerung ist das größte. Wer sich für diese Rolle entschieden hat, wird an diesem Abend demonstrieren, versuchen, sich in abgesperrten Krisensitzungen Gehör zu verschaffen, wird Geld für einen Impfstoff spenden oder sterben, weil es zu wenig Masken gibt, der Impfstoff nicht ausreicht oder weil die Presse lebensrettende Informationen nicht weitergegeben hat. Andere organisieren Geld, horten oder verteilen es, setzen damit Dutzende Leben aufs Spiel und retten vielleicht schließlich Tausende, weil sie in der letzten Spielphase, wenn das Geld am dringendsten gebraucht wird, noch mehr als vier grüne Scheine haben. Manche richten Quarantänezonen ein, andere geben Informationen weiter, entscheiden über Schul- und Grenzschließungen und sind Buchhalter des Todes, statt ihn noch bekämpfen zu können. Manche verlieren auch einfach ihr Leben, weil gerade sie es sind, die den neuen Briefumschlag mit Angaben zur eskalierenden Situation geöffnet haben.
Ein dramatisches Wissenschafts- und Gesellschaftsspiel
So realistisch die Pandemiesituation ist, es bleibt eine Inszenierung – und das ist gut so. Dennoch kann sich niemand in den zufällig zusammengesetzten Teams der Dramatik der Situation entziehen, dem exponentiell wachsenden Entscheidungsdruck und der zunehmenden Überforderung. Ein potentiell allwissendes Publikum, das beobachten, verstehen und analysieren könnte, gibt es an diesem mit „Virus“ betitelten Theaterabend nicht.
Nicht einmal der Kritiker kann sich auf seine Aufgabe zurückziehen, sich Notizen und Gedanken machen. Plötzlich spricht ein Vertreter der Wirtschaft gerade ihn an: Sollen Beatmungsgeräte gekauft werden, oder soll noch eine Finanzspritze an die Forschung gehen? Gleichzeitig wollen die anderen Mitglieder des Gesundheits-Teams sich gemeinsam beraten, ob man eine dringende Verhaltensregel lieber selbst der Öffentlichkeit mitteilt, statt sich an die dafür zuständige, hier aber stets störrische Presse zu wenden.
Das Theater bleibt ein Spiel, es überwältigt niemanden, aber die hohe Frequenz der Interaktionen gewährt auch keine Auszeit. Es gibt keinen Stücktext, keine Regie und kein Bühnenbild, bloß ein paar Requisiten und Papiergeld. Es gibt auch keine Pause. Statt Theaterfiguren gibt es Anne Schäfer und Jan Peter Horstmann, die die unversehens in Entscheidungszwängen steckenden Menschen ruhig, freundlich und dadurch unerbittlich als „MCs“ (eine Art Koordinatoren) durch das Szenario führen. Sie bilanzieren auch nach jedem Abschnitt die in verlorenen Menschenleben gezählten Konsequenzen der Entscheidungen und geben Hinweise für die Zukunft.
Mit „Virus“ hat der 1965 geborene Niederländer Yan Duyvendak 2018, also vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie ein die Genres überschreitendes Ereignis für das Theater konzipiert. Das dramatische Wissenschafts- und Gesellschaftsspiel basiert auf einer Simulation, die der französische Katastrophenmediziner und Spezialist für Krisenmanagement Philippe Cano auf Basis der Erfahrungen mit Ebola und Vogelgrippe für die Europäische Union entwickelt hat, um damit Politiker für die schwierigen Entscheidungssituationen in Epidemie-Situationen zu trainieren.
Ein Katharsis-Erlebnis für das Publikum
Die Simulationsszenarien ließ Duyvendak von der französischen Spiele-Entwickler-Gruppe La Team Kaedama bearbeiten, so dass in drei Zeitabschnitten mit Hilfe von Regeln, Ereigniskarten, verdeckten Anweisungen und Verhandlungs-Elementen ein Krisenszenario bewältigt wird, das – je nach Spielweise der Teams – in vier sehr unterschiedliche Zukunftsversionen mündet: vom Fortbestehen der neoliberalen und kapitalistischen Welt, wie wir sie kennen, über eine stärker durch Kollektive und autarke Gemeinschaften geprägte Welt bis zu religiös autoritären und faschistischen Regimes, die durch Angst vor noch schlimmeren Krisen lebendig gehalten werden, bis zur vollständigen gesellschaftlichen Desintegration, in der es nach dem Tod von mehr als der Hälfte der Menschheit nur noch um das bloße Überleben geht.
Nach den bisherigen Spiel-Erfahrungen, über die Yan Duyvendak und sein Team im Nachgespräch berichten, führen die Abende meist in die Zukunftsszenarien eins bis drei. An diesem Freitagabend führt der Spielverlauf zum ersten Mal in Zukunft 4. Die Auflösung der Gesellschaft und ihrer Strukturen steht bevor: „Die Menschheit erschöpft ihre letzten Reserven und versucht zur Jagd und zum Sammeln von Nahrungsmitteln zurückzukehren.“ Im Nachgespräch geht es viel um das „Warum“ – und es stellt sich heraus, dass es ausgeschlossen ist, die Entwicklung der Katastrophe kausal auf einzelne Entscheidungen zurückzuführen, sie damit allgemein zu erklären und für ein zukünftiges Spiel die richtigen Lösungen zu finden. Es kommt auf das Zusammenspiel in den Teams und der Teams miteinander an, auf die Offenheit von Verhandlungen.
Auf die Frage, was den Abend im Theater von dem zugrunde liegenden Simulationsprojekt der EU unterscheidet, was das spezifisch Theatralische ausmacht, hat Duyvendak eine knappe Antwort parat: Er setze darauf, dass das als Spieler eingesetzte Publikum eine Katharsis erlebe. So konzentriert sich das Theater mit neuen ästhetischen Mitteln auf seinen Ursprung.
August 25, 2020 at 03:13AM
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Das große Spiel um die Zukunft der Menschheit - F.A.Z. - Frankfurter Allgemeine Zeitung
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